... ungeschickt eingefädelt ...
Üblicherweise kann sich der Tierarzt nach einem Notruf ein grobes Bild von der Situation machen, wodurch er sein mögliches Vorgehen, vor der Ankunft am Einsatzort, im Kopf durchspielen kann. Im folgenden Fall jedoch konnte ich mir nur schwerlich vorstellen was mich erwarten würde.
Von Dr. Hannes Wendt. Die Besitzerin eines Hundes rief mich gegen 20.00 Uhr an und berichtete, dass sich ihr Cocker Spaniel irgendwie mit der Kralle im Gesicht verhakt hätte. Da die Dame etwas aufgeregt war, konnte ich telefonisch leider nicht weiter ermitteln, wo denn die Kralle festhing. Um keine weitere Zeit zu verlieren, riet ich ihr, das Tier so lange zu fixieren bis ich eintreffe, damit keine schlimmeren Verletzungen entstehen. Glücklicherweise ließ es der Abendverkehr zu, innerhalb von 15 Minuten am Einsatzort zu sein. Wie telefonisch besprochen, konnte der Besitzer seinen Hund gut fixieren. Nachdem ich mich orientieren konnte, wo der Hund anfängt und die Decke aufhört, stellte ich fest, dass das Tier mit der Kralle der rechten Hinterpfote im Bindehautsack des rechten Auges festhing. Wenn sich der Hund befreien wollte, konnte er natürlich mit dem Hinterbein immer nur nach hinten ziehen, wodurch die Kralle allerdings eher fester saß.
Nachdem ich die Pfote leicht nach vorne und nach oben zog, war die Zwangshaltung schnell beendet. Schwanzwedelnd und mit großer Freude lief der Hund durch die Wohnung. Auch den Besitzern war die Erleichterung anzumerken, da sie zudem vorher nicht wussten, was sich überhaupt wie mit was verhakt hatte. Nachdem die erste Freude vorbei war, konnte ich nun zur genaueren Untersuchung kommen. Bei jeder Verletzung am oder im Auge ist es sehr wichtig festzustellen, ob die Hornhaut ebenfalls verletzt ist. Falls eine tiefgehende Schädigung der Hornhaut vorliegt, muss der Patient sofort zu einem für Augenerkrankungen spezialisierten Tierarzt gebracht werden, da ansonsten die Gefahr besteht, bei falscher oder nicht ausreichender Therapie, das Augenlicht des Patienten zu verlieren. Daher testete ich die Oberfläche der Hornhaut, indem ich in das Auge einen fluoreszierenden Farbstoff applizierte, der eventuelle Verletzungen unter Abdunkelung des Untersuchungsraums sichtlich macht. Glücklicherweise war der Fluoreszin- Test negativ. Allerdings fiel bei der Augenuntersuchung des elfjährigen Spaniels auf, dass das untere Augenlid, aufgrund des Zuges durch die Hinterpfote, geringgradig ausgeleiert war.
Es ist bei Folgeuntersuchungen des Haustierarztes wichtig, darauf zu achten, ob sich dieses sogenannte Ektropium wieder zurückbildet. Sollte eine Auswärtsdrehung des Augenlids weiterhin bestehen, muss über weitere therapeutische Maßnahmen nachgedacht werden, da auch hier auf Dauer eine Gefahr für das Auge besteht. Bis auf eine Rötung der Bindehaut ist der Hund mit einem Schrecken davon gekommen. Aufgrund der Reizung war das Auge mit einer antibiotischen Augensalbe zu behandeln, welche die Besitzer vor dem Schlafengehen nochmals eingeben sollten. Desweiteren injizierte ich ein entzündungs- und schmerzhemmendes Medikament, um eine Schwellung des Auges zu minimieren. Obwohl ich noch nie gesehen oder in der Fachliteratur gelesen habe, dass ein Hund seine Kralle so ungeschickt „eingefädelt“ hat, wollte ich bei diesem kleinen Tollpatsch kein weiteres Risiko eingehen. Da er sich wahrscheinlich beim Kratzen am Kopf mit seiner Kralle einhängte, bandagierte ich seine rechte Vorder- und Hinterpfote leicht ein, damit er in seinem ohnehin schon ausgedehnten Bindehautsack nicht noch einmal hängen bleiben konnte. Geduldig, freudig und Leckerlis fressend, ließ der Hund alle Untersuchungen und Behandlungen über sich ergehen. Mit dem Rat, am nächsten Tag den Haustierarzt für eine Folgeuntersuchung aufzusuchen, konnte ich lächelnd einen überaus lieben Hund und seine erleichternden Besitzer wieder verlassen.