Die Gefühlswelt der Tiere Empfinden alle Tiere Schmerz?
Die Fragestellung, ob alle Tiere Schmerzen empfinden können, löst sicherlich bei den meisten unter uns Tierfreunden ein befremdliches Gefühl aus, da die spontane Antwort sicherlich ist: Ja, natürlich können alle Tiere Schmerzen empfinden – es sind doch fühlende Lebewesen! Und doch kann man sich mit dieser Fragestellung einmal auseinandersetzen. Angeregt wurde ich hierzu, weil ich beobachtete, wie Austern gegessen wurden. Die Schale wurde geknackt, aufgestülpt und Zitronensaft über die Auster gegeben, bei der man am Rand der Schale ein leichtes Zucken erkennen konnte. Denn Austern werden lebend gegessen (der Frische wegen …). Fühlt die Auster in diesem Augenblick Schmerz? Und wie sieht es dann mit anderen Tieren wie Schnecken, Muscheln oder dem Hummer aus? Wir schauen uns das einmal genauer an.
Bis ins 17. Jahrhundert hinein hielt sich die Meinung, dass Tiere im Allgemeinen kein Schmerzempfinden besitzen. Der französische Philosoph René Descartes sprach Tieren sogar gänzlich ein Bewusstsein ab. Und tatsächlich, eigentlich unglaublicher Weise, wurde Studenten der Veterinärmedizin in den USA bis in die 1980er Jahre hinein erklärt, dass Tiere keinen Schmerz empfinden könnten. Wie kommen wir Menschen dazu, hier überhaupt urteilen zu können, fragt man sich. Wie kommen wir dazu, uns derartig zu erheben? Wir können ja lediglich von unserem Schmerzempfinden auf das von anderen Lebewesen schließen.
Es gibt konkrete Anhaltspunkte für Schmerzempfinden aufgrund verhaltensbezogener und physiologischer Reaktionen.
Das Tier hat ein Nervensystem und Sinnesrezeptoren. Bei Schädigungen zeigt das Tier Abwehr- und Schutzreaktionen in Form von Zuckungen, Hinken, Reiben, Lautäußerungen, Fluchtversuchen. Das Tier verfügt über sogenannte Opioidrezeptoren. Das heißt, dass sich die Reaktion auf schädliche Reize nach Gabe von Schmerzmitteln verringert.
Wie entsteht Schmerz überhaupt?
Durch das Empfinden einer äußeren Reizung, sei es z.B. eine konkrete Verletzung, ein ausgeübter Druck, Hitze, ein Ziehen, Kontakt mit chemischen Stoffen, wird Schmerz wahrgenommen. Schmerzrezeptoren im Körper nehmen die Reize auf und leiten diese elektrischen Informationen an das Rückenmark weiter. Hier werden die Reize verarbeitet und an die Großhirnrinde (Neocortex) weitergegeben. Das alles geschieht blitzschnell. Ist die Information dort angekommen, reagiert der Körper mit spontaner Abwehr. Wer zum Beispiel barfuß auf einen spitzen Stein tritt, wird mit dem Fuß sofort hochschnellen, um den Schmerz umgehend zu beenden. Bei Wirbeltieren funktioniert dies ganz genauso.
Die Internationale Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzes (ISAP) beschreibt die Definition von Schmerz so: „ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden Gewebe‐ schädigung verknüpft ist, oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird“. Das aber ist nun einmal eine Definition, die von Menschen formuliert und nachempfunden wird. Lässt sich das auf alle Tiere übertragen, bzw. wie kommen wir dazu zu versuchen, Schmerzen von Tieren definieren zu können? Wir können dies doch nur aus unserer Perspektive tun und können uns logischerweise nicht in die Gefühlswelt einer Schnecke oder einer Muschel hineinversetzen. Da Tiere nun einmal nicht sprechen können, ist es ihnen auch nicht möglich, die Qualität oder Intensität von Schmerzen anzuzeigen.
Aber wie verhält es sich mit dem Schmerzempfinden bei wirbellosen Tieren?
Nur 4% der Tiere auf unserer Erde gehören der Kategorie der Wirbeltiere an, der Rest zählt zu den Wirbellosen, die über kein Rückgrat verfügen. Hierzu gehören alle Weichtiere (z. B. Schnecken, Muscheln und Tintenfische), Stachelhäuter (z. B. Seesterne), Krebstie‐re, Schwämme, Würmer, Insekten und Spinnentiere. Nun wird in der Wissenschaft größtenteils behauptet, dass die wirbellosen Tiere kein Schmerzempfinden hätten, was vor allem damit begründet wird, dass die jeweiligen Gehirne zu klein wären oder gar kein Gehirn vorhanden ist. Dabei wird außer Acht gelassen, dass die Verhältnismäßigkeit von Gehirngröße und Körpergröße sich oftmals genauso verhält wie bei Wirbeltieren, etwa bei Fischen.
Hartnäckig hält sich die Meinung, dass wirbellose Tiere kein Schmerzempfinden haben.
Warum aber krümmt sich dann der Regenwurm, wenn ihm ein Angelhaken durch den Körper gestochen wird? Warum versucht ein Hummer oder ein Krebs, der lebend in kochendes Wasser hineingeworfen wird, am Topfrand herauszuklettern? Sind dies nur entsprechende physiologische Reaktionen, oder spüren die Tiere den nahenden Tod? Sind es nur Reflexe? Bei Ringelwürmern, Weichtieren und Fadenwürmern wurden Nozizeptoren, die Rezeptoren für Schmerz, festgestellt, was dahin lenkt, dass sie eben doch zu Empfindungen fähig sind.
Was sind Nozizeptoren?
Die Wahrnehmung von Schmerz nennt man in der Wissenschaft Nozizeption und die dafür verantwortlichen Rezeptoren Nozizeptoren. Dies sind freie Nervenendigungen der Rückenmarksneuronen und kommen in allen schmerzempfindlichen Geweben des Körpers vor.
Insekten haben keine Nozizeptoren (außer die Fruchtfliege).
Es liegen aber erste Belege für ein "Schmerzgedächtnis" bei einem sogenannten Arthropoden, also einem Gliederfüßler, vor. Ein Experiment, das in der Universität von Sydney (Australien) durchgeführt wurde, hat bewiesen, dass eine Fruchtfliege einen chronischen Schmerz entwickeln kann und auch zur Hypersensitivität fähig ist.
Im Experiment wurde bei einer Fruchtfliege ein Bein-Nerv verletzt, um diesen dann heilen zu lassen. Um die Schmerzempfindlichkeit zu prüfen, wurde vor der Verletzung beobachtet, ab welcher Temperatur das Tier vor einer heißen Oberfläche zurückzuckt. Geschah dies vorher bei einer Temperatur von 42 Grad, schreckte sie nach der Verletzung bereits bei 38 Grad zurück. Hieraus wurde geschlussfolgert, dass schon harmlose Reize eine Schmerzreaktion hervorrufen können. In einer anderen Versuchsanordnung wurden Fruchtfliegen in mehreren Durchläufen zuerst mit einem Duft konfrontiert und anschließend mit einem leichten Elektroschock bestraft. Im Ergebnis gingen sie dann dem Geruch aus dem Weg.
Hummer haben möglicherweise die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden.
Es ist grundsätzlich eine furchtbare Vorstellung, dass Hummer lebend in kochendes Wasser geworfen werden, um sie im Anschluss mit Zitrone garniert auf dem Teller zu präsentieren. Hummer fühlen keinen Schmerz, heißt es. Früher wurde in Restaurantküchen der Hummer mittels eines Messerstichs zwischen den Fühlern getötet. Mittlerweile werden Hummer auch mit Gas eingeschläfert. Viele Menschen, die Hummer essen wollen, möchten aber die „Frische-Garantie“ und kaufen daher einen lebenden Hummer. Der Todeskampf im siedenden Wasser dauert bis zu 8 Minuten.
Mittlerweile gehen Experten davon aus, dass Krebstiere, zu denen auch der Hummer zählt, über hochentwickelte Nervensysteme verfügen und dadurch logischerweise ein Schmerzempfinden haben. Wissenschaftlern ist es noch nicht gelungen, konkrete Beweise vorzulegen, aber es wurde festgestellt, dass Hummer zum Beispiel die gleichen Reaktionen zeigen wie ein Hund, der mit Stromstößen gequält wird.
Das Gesetz für den Hummer-Schutz
In der Schweiz besteht seit 1. März 2018 eine Regelung, die vorschreibt, wie Hummer zubereitet werden müssen. Die Tiere müssen betäubt werden, zum Beispiel mithilfe eines Elektroschocks, bevor sie ins kochende Wasser geworfen werden. Um des Tierschutzes willen sollen die Tiere nämlich betäubt werden, bevor sie in den heißen Kochtopf wandern. Auch dürfen noch lebende Hummer in der Schweiz nur noch gekühlt, nicht aber in eiskaltem Wasser oder auf Eis transportiert werden.
In Österreich ist der Hummer seit dem 1. Januar 2005 mit Wirbeltieren gleichgestellt. Auch Neuseeland, zwei Staaten in Australien, Schottland, England und Norwegen lehnen das Lebendkochen von Hummer inzwischen ab.
Und was ist mit den Fischen?
Wenn man darüber nachdenkt, wie mit Fischen beim Fischfang umgegangen wird, hat man keine schönen Bilder im Kopf. Da zappelt ein Fisch an einer Angel und windet sich, zappelt um sein Leben.
Beim industriellen Fischfang werden Tausende von Fischen an Deck des Fangschiffes gekippt und ersticken, bevor sie dann auf Eis gelegt und zum nächsten Abnehmer transportiert werden.
Fische gehören zu den Wirbeltieren, aber im Gegensatz zu den Säugetieren fehlt ihnen die Großhirnrinde (Neocortex), haben aber ähnlich wie Vögel Hirnregionen, die Funktionen der Großhirnrinde übernehmen können. Zu dieser Erkenntnis kam unter anderem Victoria Braithwaite, die als eine der führenden Wissenschaftlerinnen auf dem Gebiet der Schmerzforschung bei Fischen gilt. Ebenfalls haben Fische schmerzempfindliche Nervenzellen (die Nozizeptoren), die eben auf schädliche Reize reagieren. Fische haben auch kognitive Fähigkeiten, das heißt, sie können ihre Umwelt wahrnehmen, können lernen und sich erinnern.
In verschiedenen Studien der Biologin Lynne Sneddon von der Universität Liverpool 2003 und 2019 konnte nachgewiesen werden, dass Fische nicht aus einem Reflex heraus auf Schmerz reagieren, sondern dass eine Informationsverarbeitung stattgefunden hat. Auch konnte das Verhalten durch eine Verabreichung von Schmerzmitteln rückgängig gemacht werden. So wurden in einer Versuchsreihe Fischen Essigsäure in die Lippen gespritzt mit dem Ergebnis, dass sie ihren Körper hin und her wiegten und ihren Mund am Boden des Aquariums oder an der Wand gerieben haben und auch eine Phase der Appetitlosigkeit zeigten. Dies alles deutet darauf hin, dass Fische Schmerz bewusst wahrnehmen und leidensfähig sind.
In Deutschland ist es grundsätzlich verboten, Tieren Schmerzen zuzufügen. Strafrechtlich geschützt sind allerdings nur Wirbeltiere wie Fische, Lurche, Kriechtiere, Vögel und Säugetiere. Wirbellose Tiere wie Insekten, Spinnen und Schnecken bleiben außen vor.
Muscheln, Schnecken, Tintenfische und Austern.
Das Nervensystem einer Muschel, die zu den Weichtieren zählt, gilt als sehr rudimentär. Auf der anderen Seite hatten italienische Forscher schon im Jahr 1993 festgestellt, dass Miesmuscheln auf schmerzlindernde und hormonhaltige Stoffe reagieren. Wenn das Immunsystem der Muschel gestresst war, wurden wenige AntiStress-Moleküle, Endorphine, gefunden – war sie entspannt, stieg der Spiegel an Endorphinen, die zur Gruppe der Morphine gehören. Auch Nozizeptoren konnten bei Muscheln festgestellt werden. Es kann daher definitiv nicht ausgeschlossen werden, dass auch Muscheln Schmerz empfinden können.
Schnecken, die auch zur Klasse der Weichtiere gehören, gelten unter Gartenfreunden zwar als Lästlinge, bei anderen stehen sie als beliebte Speise hoch im Kurs. Mehrere Millionen Schnecken werden jedes Jahr für den Verzehr gezüchtet. Sie besitzen zwar kein zentrales Nervensystem, sondern verfügen über einen Nervenknoten, die Ganglien. Statt das alles wie bei Säugetieren von einem Gehirn gesteuert wird, geschieht dies bei der Schnecke über die Cerebralganglien, die als Sinneszentren fungieren und von denen Bewegungen und Reflexe aus geleitet werden. Dass sie Schmerzen empfinden können, ist sehr wahrscheinlich.
In Frankreich allein werden jährlich ca. 40.000 Tonnen Schnecken verspeist! In verschiedenen Schneckenfarmen leben mehrere Hundert Schnecken auf einem einzigen Quadratmeter.
Gemäß der Tierschutzschlachtverordnung dürfen Schnecken getötet werden, indem man sie in lebend in kochendes Wasser wirft. Dies ist deshalb erlaubt, weil die Schnecke eben zur Klasse der Wirbellosen gehört und ihr daher ein noch schwächerer Schutz gewährt wird als Wirbeltieren, die per Gesetz nur unter Betäubung getötet werden dürfen.
Tintenfische, die zur Klasse der Kopffüßler gehören, gelten als sehr intelligent und sensibel und verfügen über ein sehr differenziertes Nervensystem mit beachtlichen Kommunikationsstrukturen und einem guten Kombinationsvermögen. Es ist sogar so, dass das Nervensystem des Tintenfischs noch verzweigter ist als beim Menschen, da sich drei Fünftel der Neuronen in den Armen befinden, während sich beim Menschen die meisten Neuronen im Gehirn befinden. Wenn man dann darüber nachdenkt, dass in manchen Ländern dieser Welt der Tintenfisch noch lebendig auf dem Teller serviert wird, dann kann man sich vorstellen, welchem Leid das Tier ausgesetzt ist.
Austern gehören für viele Menschen als Delikatesse auf den Teller.
Ihre Schale wird mit einem Austernmesser geknackt, in dem der Schließmuskel durchtrennt wird, Zitrone wird über das Muschelfleisch geträufelt, und wenn sie am Rand der Schale noch zuckt, ist dies das Zeichen für erstklassige Frische. Man isst dann also faktisch ein lebendes Tier. Was bekommt die Auster hier mit? Da der Schließmuskel sich sehr nah am Herzen der Auster befindet, kann es auch sein, dass die Auster bereits beim Öffnen getötet wird und das Zucken nur noch verbliebene Reflexe sind. Die Auster verfügt über kein Gehirn, sondern hat ein paar vergrößerte Ganglien – aber kann sie nicht doch Schmerz fühlen? Denn auch bei Austern, so wie bei den Muscheln, wurde festgestellt, dass sie bei Stress (wenn ihre Schale etwa gewaltsam geöffnet wird) Stoffe ausschüttet, die Opiatverbindungen gleichen, die das Gehirn bei Stress und Schmerz ausschüttet.
Kann man überhaupt Grenzen ziehen, wenn es um Schmerzempfinden geht?
Es bestehen rein wissenschaftlich betrachtet offenbar noch einige Unklarheiten, was das Schmerzempfinden konkret betrifft. Aber letztendlich sprechen wir von Lebewesen, bei denen man annehmen kann, dass sie in jedem Fall Todesängste entwickeln – ob dies nun aus einem Reflex heraus geschieht oder nicht. Es ist anmaßend, sich als Mensch darüber erheben zu wollen und von sich selbst auf andere Lebewesen zu schließen.
Die hübschen Seesterne verfügen über kein Gehirn, haben aber sensorische Rezeptoren und können dadurch auf schädigende Reize reagieren. Das heißt, es bedarf keines komplexen Nervensystems, um selbst schützende Reaktionen hervorzurufen. Eine bewusste Wahrnehmung wird den Tieren abgesprochen.
Ob es nun die Weichtiere sind oder die Insekten, ob sie ein ausgeprägtes Nervensystem haben oder nicht, es gibt niemandem das Recht, die Tiere zu töten oder gar zu quälen. Und auch wenn der Biene von Forschern jegliches Schmerzempfinden abgesprochen wird – wenn man eine im Wasser zappelnde Biene sieht, die zu ertrinken droht, holt man sie raus. Damit sie leben kann.